Der Dieb und die Tochter des Königs

Dieb & Prinzessin

Ich möchte euch meine Lieblingsgeschichte des großen spirituellen Meisters Sri Ramakrishna erzählen. Eines Tages stahl sich ein Dieb gegen Mitternacht in einen Palast und belauschte zufällig ein Gespräch zwischen dem König und der Königin. Der König sagte zur Königin: Ich möchte, dass unsere jüngste Tochter einen heiligen Mann heiratet, damit sie Frieden findet. Alle unsere Töchter haben Könige und Generäle geheiratet, doch ihr Leben ist unglücklich. Heilige Männer führen ein sehr friedvolles Leben und wenn sie einen von ihnen heiratet, wird ihr Leben voller Frieden sein. Morgen in aller Frühe werde ich meine Minister zum Ufer des Ganges schicken, wo die heiligen Männer meditieren. Ich bin sicher, dass einer von ihnen einwilligen wird, meine Tochter zu heiraten.“

 

       Der Dieb belauschte dieses Gespräch und dachte bei sich: „Mein Gott, ein armer Mönch soll die Prinzessin erhalten? Ich will an den Ganges gehen und mit den Mönchen meditieren. Wer weiß, vielleicht werde ich ja ausgewählt. Jetzt muss ich stehlen, um ein bisschen Geld zu haben. Doch wenn ich der Prinzessin gefalle, werde ich über Nacht reich sein! Ich werde im Reichtum schwimmen!“

 

      Früh am Morgen des nächsten Tages ging der Dieb im Gewand eines heiligen Mannes zum Ganges hinab und begann, mit den anderen Mönchen zu meditieren. Bald kamen auch die Minister des Königs und begannen, von Mönch zu Mönch zu gehen, auf der Suche nach einem Mönch, der die Prinzessin heiraten möchte. Doch die Mönche wurden wütend: „Wir streben nach unendlichem Licht, unendlicher Wahrheit, unendlicher Freude, und ihr wollt uns wieder an diese Welt binden? Wir interessieren uns nicht für das materielle Leben, wir wollen keinen materiellen Besitz“, riefen sie. Die armen Minister wurden von allen Mönchen beschimpft und beleidigt. Die Mönche hatten kein Interesse an der Prinzessin, sie interessierten sich nur für die höchste Wahrheit und inneren Reichtum.

 

      Einer nach dem anderen verweigerte die Hand der Prinzessin. Als die Minister schließlich zu dem Dieb kamen, willigte dieser ein, die Tochter des Königs zu heiraten. Die Minister kehrten zum König zurück und erzählten ihm die ganze Geschichte. Als er hörte, dass ein Mönch Interesse an der Prinzessin gezeigt hatte, war der König hocherfreut. „Morgen werde ich meine Tochter zum Gangesufer mitnehmen, wo die heiligen Männer beten und meditieren“, sagte er.

 

      Während der Nacht stahl sich ein göttlicher Gedanke in den Geist des Diebes. Er dachte bei sich: „Ich täusche nur vor, ein heiliger Mann zu sein. Allein durch das Vortäuschen erhalte ich die Prinzessin und dazu Reichtum und materielle Güter. Ich bin sicher, wenn ich wirklich und aufrichtig ein Mönch werde, werde ich unendliche Kraft, unendliches Licht, unendliche Seligkeit und unendlichen Frieden erhalten, so wie diese echten Mönche all das von Gott schließlich erhalten werden. Warum soll ich an diesen endlichen materiellen Reichtum verhaftet sein, wenn ich die Gelegenheit habe, unendliches Licht, unendliche Seligkeit und unendliche Kraft von Gottes grenzenlosem Reichtum zu erhalten?“

 

So änderte der Dieb über nacht seine Meinung und als der König am nächsten Morgen auf ihn zutrat, erwies er dem König keinen Respekt. Er wurde wütend und rief: „O König, binde mich nicht an diese materielle Welt. Ich will Gott und nur Gott allein. Ich brauche deine Tochter nicht.“ Der arme König ging zurück zu seinem Palast und der Dieb wurde ein aufrichtiger heiliger Mann.

aus: Sri Chinmoy. Schwingen der Freude. Nürnberg, 2012 (Originalausgabe: The Wings of Joy, 1997)

Kommentar des Autors

Diese Geschichte zeigt, dass wir unsere spirituelle Reise in jedem Augenblick beginnen können. Der Dieb begann mit Nachahmung. Doch er erhielt Inspiration, als er die echten heiligen Männer aufrichtig nach Gott und nur Gott allein streben sah. Von der Inspiration gelangte er zum seelenvollen inneren Streben. Er war nicht länger zufrieden mit seinem Verlangen nach Geld und materiellem Reichtum, weil er fühlte, dass man etwas viel Erfüllenderes erlangen konnte.